Dr. Jörg Katerndahl (Kunsthistoriker)
Einführung zur Arbeit von Nasim Naji, HSE-Foyer Darmstadt:
Sehr geehrte Damen und Herren,
als ich vor einigen Wochen von Frau Saalfrank gebeten wurde, die heutige Laudatio für Nasim Naji zu halten, erinnerte ich mich nahezu unmittelbar, bereits eine Arbeit von ihm etwa vier Jahre zuvor beim Atelierrundgang der Akademie Karlsruhe 2006 gesehen zu haben. Seine frühe Installation im Dachgeschoss von Schloss Scheibenhardt hatte mich offenbar nachhaltig beeindruckt. Ich dokumentierte sie damals in meinem privaten Fotoarchiv, weil mich die Radikalität dieser Installation, die Nasim Naji dort am Ende seines zweiten Studienjahres zeigte, irritiert hatte. Inmitten einer Ausstellung mit vergleichsweise herkömmlichen Leinwandgemälden seiner Kommilitonen hatte der junge Künstler offenbar seinen gesamten studentischen Besitz, bestehend unter anderem aus einer alten Ledersitzgarnitur, Stereoanlage, Bücherregal, Grünpflanzen, Mikrowelle, Kochtöpfen, Wasserpfeife, Schränken und einem Hochbett teilweise im Grundriss seines realen Karlsruher Zimmers im Atelier aufgebaut und schien in diesem etwas chaotisch anmutenden Ensemble zwischen den Stellwänden für die Ausstellungszeit tatsächlich zu leben. Die Grenzen zwischen Kunst und Leben, Öffentlichkeit und Privatsphäre, waren hier in höchstem Maße irritierend aus- und in Frage gestellt. Ein mit Rolljalousien separierter Raum unter dem Bett ließ durch die Schlitze im Inneren ein rätselhaftes kokonartiges Leuchtobjekt erkennen.
Eben jenen Blick in den mit Jalousien umgrenzten Raum und einige weitere Details hat Nasim Naji von dieser frühen Installation fotografisch in sein Wandbild hier in der HSE übernommen und dieses Vorgehen ist charakteristisch für seine künstlerische Arbeit im Allgemeinen. Der Künstler benutzt die älteren Bilder dabei nicht im Sinne einer nostalgischen Rückschau oder des Selbstzitates, sondern in der Form einer fortschreitenden Verdichtung des eigenen Bildkosmos.
Nasim Naji wurde 1983 in Braunschweig geboren. Sein Vater ist Palästinenser, seine Mutter Deutsche. In seiner frühen Kindheit lebte die Familie einige Zeit in Jordanien, später in Deutschland. Im Jahr 2004 begann Nasim Naji sein Studium an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe, das er vor kurzem mit der Diplomprüfung abschloss. Zurzeit ist er Meisterschüler bei der Karlsruher Malereiprofessorin Corinne Wasmuht, eine Auszeichnung die ihm unter anderem die Nutzung eines eigenen Ateliers und der sonstigen Einrichtungen der Kunstakademie für ein weiteres Jahr ermöglicht.
Es ist mutig und großzügig von den Verantwortlichen der HSE, der jungen Kunst an einem so zentralen Ort wie hier im Foyer, am zentralen Gebäudeeingang so viel Raum und Freiheit zu ermöglichen.
Das ganze Unternehmen HSE präsentiert sich mit der jungen Kunst und Kultur im Rücken, stellt sich raumgebend vor die innovative Leistung eines einzelnen jungen Künstlers. Der Wechsel der Wandgestaltung nach knapp einem Jahr verheißt hier stets neue Impulse, die im besten Fall beständig in das Unternehmen hineinwirken. Angesichts der aktuellen restaurativen Debatten um den Atomausstieg in Deutschland unterstreicht die HSE damit zugleich außenwirksam ihr zukunftsweisendes Profil als großer Ökostromanbieter.
„Das Ganze sehen“, das Firmenmotto der HSE, wirkt dabei zugleich wie ein Appell an die Betrachter der neuen Foyergestaltung. Lassen Sie uns also die neue Wandinstallation von Nasim Naji hier im Foyer nun genauer betrachten: Auf der vierundzwanzig Meter breiten und vier Meter hohen Wandfläche verbindet ein rot dominiertes, wellenförmiges Band geometrisch umgrenzter Einzelflächen drei unterschiedliche Collagezentren zum Monumentalgemälde und lässt das Ganze zugleich wie einen Ausschnitt aus einem noch größeren Kosmos erscheinen. Mit seiner Vermischung der künstlerischen Medien Malerei, Fotografie, Plastik und Installation wählt der Künstler auch hier einen universalen Ansatz. Das Ausgreifen des Bildes in den Raum definiert den Übergang vom Gemälde über das Relief zur Installation, eine allgemeine Bewegung vom privaten Bild in den realen, öffentlichen, gemeinschaftlichen Raum hinein. Die eigentlich disparaten Bildräume werden dabei vielfältig aufgebrochen, verdichtet und miteinander vernetzt.
Alle verwendeten Fotografien sind vom Künstler selbst aufgenommen und am Computer zunächst digital zur Collage zusammengefügt worden. Eine elektronische Diskokugel steht in beiden großen Collagen links und rechts im Bildzentrum. Die zentrale Verwendung dieser Halbkugel als Mittel und Zeichen der Projektion deutet schlüssig einerseits auf den Vorgang der Projektion und Überlagerung persönlich bedeutsamer Bilder, die Nasim Naji hier im Foyer der HSE wie die flüchtigen Lichteffekte eines Diskobeamers über die Wandflächen und den Raum gleiten lässt, andererseits aber auch auf die Leistungen des aktiven Betrachters, der in seiner Anschauung zwangsläufig immer zugleich eigene innere Bilder und Gefühle in das Dargestellte hinein projiziert.
In der Collage rechts findet sich über der Fotografie der Diskokugel, einem im Übrigen aus realen Fundstücken kombinierten Objekt aus dem plastischen Werk des Künstlers, eine Fotografie der verstorbenen Großmutter von Nasim Naji. Nach seiner Auskunft deutet die Dreiviertelscheibe vor ihrem Gesicht auf den leider nur kleinen Teil, den er selbst von ihr erleben durfte. Auch ohne die persönliche Information, dass es sich hier tatsächlich um die Großmutter des Künstlers väterlicherseits handelt, wird dieses Motiv wohl intuitiv zumeist in ähnlicher Weise interpretiert werden. Auch die weiteren konzentrisch angeordneten Motive lassen sich neben der speziellen Bedeutung für den Künstler allgemeinverbindlich deuten. Die Horde wilder Tiere mit gefletschten Zähnen, dient in diesem Sinne als ein Verweis auf den Kampf ums Überleben, Aggressivität, Missgunst und Tod. Darunter wurde ein gespiegeltes Kinderbildnis, aufgenommen in einem Bus in Damaskus und ein Kleinkindfoto des Künstlers beim Kreiselspiel, mit einer beleuchteten Flipperlandschaft unterlegt, als Hinweis auf Spiel, Glück und die schicksalhaften Wendungen des Lebens. Ähnliche, allgemeinere Deutungen ließen sich auch für das Bild der Frau am nebelverhangenen Meeressaum, den tristen Blick auf einen von großen Wurzeln überwachsenen Autoparkplatz oder den sitzenden Frauentorso, in dem das rote Haltezeichen einer Ampel schlüssellochartig aufscheint, benennen.
Das eigentliche Collagezentrum greift dabei vielfältig in den umgebenden Raum über. Mittels verschiedener auch dreidimensional in den Foyerraum verlängerter Rahmenleisten sind die Bildfelder über Eck räumlich verwoben und übereinander gelegt. Der Übergang vom Bild zur Installation wird durch Stangen und exemplarische geometrische Auswüchse in den dreidimensionalen Raum markiert. Ebenso geht der reale Raum wiederum etwa in Form des langen schwarzen Lüftungsschlitzes auf der Wand oben, der als geometrisches Motiv einbezogen wird, in das gemalte Bild über. Die technisch-mathematische Konstruiertheit, wie sie unsere gesamte urbane Lebenswelt, etwa auch die hiesige Foyerarchitektur mit ihren dominanten waagerechten und senkrechten Linien bestimmt, wird in dem Gemälde mit diffus-abstrakten organischen Farboberflächen kontrastiert, die an Lavaströme, Wasser- und Wolkenräume denken lassen. Wie der Spiegel einer Wasseroberfläche scheinen die abstrakten Bildoberflächen außerhalb des Collagezentrums das Auftauchen weiterer konkreter Erinnerungsbilder zu überdecken.
Auch die mittlere Collage wurde zunächst im kleinen Format zeichnerisch überarbeitet und anschließend für die Installation fotografisch vergrößert. Wurzeln und Wassermotive bestimmen auch hier den Hintergrund. Wie rechts findet sich der schwarz-weiße Autoparkplatz unter farbigen Wurzeln, daneben ein gelb-weißer Seeigel, eine hellblaue Qualle und ein Mann auf einer Leiter, der riesige Weintrauben zu ernten scheint. Diesen Mann hat Nasim Naji im Jahr 2007 während seines Gaststudiums in Syrien an der Kunsthochschule in Damaskus, auf einer Straße fotografiert. Er zweigte offenbar für seinen privaten Gebrauch, wie dies dort üblich schien, Strom aus dem öffentlichen Netz ab, pflückte demnach nur im übertragenen Sinne verbotene Früchte. Mit seiner jetzigen Verwendung dieses Bildes bezieht sich Nasim Naji hier einerseits auf die Stellung der HSE als Energielieferant, andererseits aber auch auf seine Auseinandersetzung mit den arabischen Wurzeln seiner Familie väterlicherseits. Der weiß begrenzende Rahmen und ein halbkreisförmig ausgesparter Bereich heben die rechteckige Collagefläche vor dem feuerroten Hintergrund ab.
Auch die Wand links bietet eine komplexe Verbindung von Collage und umgebendem Bildraum. Wieder steht die Diskoprojektionskugel im Zentrum. Rechts dahinter der Blick in den bereits zu Anfang erwähnten, von Jalousien umgrenzten Raum aus der Installation von 2006. Darin eingefügt eine Chimäre, eine alte Frau, wieder die Großmutter des Künstlers, hier mit einem collagierten Taubenkopf, die aus dem privaten abgeschirmten Raum durch die Spalten der Jalousien zu blicken scheint; darunter grasende Kühe als eine vermeintliche Naturidylle. Auch der Packesel unten links trägt eine beträchtliche Bildlast in der Form eines nahezu kosmischen Paketes mit sich. Darüber das serielle Bild unendlicher, täglich sich wiederholender Begegnungen am Bahnsteig, übergehend in die Fotografie eines gewöhnlichen laufenden Wasserhahnes vor einem gewittrigen Himmel über Tannenbäumen. Weitere Wasser- und Wolkenmotive tauchen auch hier neben dem Bild einer blauen Grotte im Zentrum an unterschiedlichen Stellen auf. Mit Fenstern, Fassadenelementen und einer Überwachungskamera fügt sich das ganze zentrale Collagegebilde hier in der Form eines großen Hauses zusammen. Ein Gedankengebäude, das mit den zwei labilen Kartenhäusern unten korrespondiert, das rechte wiederum aus weiteren Fotografien und Werkabbildungen des Künstlers aufgebaut.
Man entdeckt weitere Details, wie Skateboard- und Geigenbruchstücke, Patronen, eine Strandidylle und vervielfältigtes Feuer. Wie mit dem Motiv des Staubsaugers im Zentrum angedeutet, erscheinen die Rahmen hier eher ausgespart als übermalt. Der Hintergrund zeigt schemenhaft mehrfach fotografische Spiegelungen des realen Foyerraumes in der HSE mit den Deckenlampen hier gegenüber, sowie auch eine Ansicht des Foyers mit der vorhergehenden Wandgestaltung unten rechts. Das kleine Motiv des Laufvogels, eines neuseeländischen Kiwis, dessen Kopf und Schnabel links in das Bild hineinragt und dessen Hinterteil rechts hinausgeht, deutet Gleichzeitigkeit an. Ebenso die durchgängige Wiederholung einzelner Motive. Ort und Zeit erscheinen im Gesamtbild aufgehoben. Der tatsächliche Ort des Bildes ist sein installativer Rahmen. Eine schmale Leiste exemplifiziert diesen Übergang in den realen Raum mit den Objekten des Künstlers links neben der Eingangstür und dem neonfarbenen Schaukelstuhlobjekt hier in der Lobby, wo sich Begegnungen von Menschen untereinander und mit der Arbeit von Nasim Naji heute Abend und in den nächsten Monaten real, örtlich und zeitlich definiert, ereignen können.
Manche mögen sich trotzdem fragen: Bildende Kunst, ein „junger Kreativer“ bei einem Energieversorger, wie passt das zusammen? Bildende Kunst enthält psychische Energien, gesellschaftliche und historische Energien. Die psychischen Bedingungen prägen die Herstellung und die Wirkung eines Kunstwerkes. In den Motiven, den Farben, Formen, der Struktur und dem Material ist das Ausdruckspotential eines Kunstwerkes gespeichert. Kunstwerke sind oftmals multifunktionale Speicher, Akkumulatoren privater Bilder wie auch gesellschaftlicher Prozesse. Auch im Märchen werden diese Realitätsebenen vermischt. Auch Märchen lassen sich psychologisch und gesellschaftlich interpretieren. Wasser dient dann beispielsweise als eine Metapher des Unbewussten.
Die von der HSE gesponserte Ausstellung „Märchen-Kunst“ in der Kunsthalle Darmstadt diente Nasim Naji als ein thematischer Bezugspunkt. Nasim Naji hat hier aber offensichtlich keine konkreten Märchenmotive verwendet. Es ist eher die irreale Form seiner Bildzusammenstellung wie in einem Gedankenstrom, die Mischwesen, Wiederholungen, Gleichzeitigkeiten, die fließenden Übergänge zwischen den Bildern, die an Darstellungsformen denken lassen, wie wir sie aus Märchenerzählungen kennen. Das weiße Segelschiff mit den abgeknickten Masten auf der Wand über dem Empfang, ein zerbrochenes Modell, das Nasim Naji so einst auf dem Sperrmüll fand und lackierte, erscheint als Symbol und Bezugspunkt unserer fortwährenden Arbeit am eigenen Bildgedächtnis.
Sich in einem realen Raum zu bewegen, und dazu zählt nun auch dieses Kunstwerk hier im Foyer, vielleicht morgens und abends hier hindurchzugehen und manchmal etwas davon in der Erinnerung mitzunehmen, prägt und ergänzt unser subjektives Reservoir an Bildern. Nur am selbst Erlebten formiert sich die bildhafte Erinnerung. Mögen sich die Bilder aus dem komplexen Kosmos der Wandinstallation von Nasim Naji mit den inneren Bildern der Mitarbeiter und Kunden der HSE in den nächsten Monaten weiter fruchtbar und zukunftsweisend verbinden.
Vielen Dank!